Essay
Non ducor, duco – Ich werde nicht geführt, ich führe
Die Bedeutung evidenzbasierter Empfehlungen von Clinical Practice Guidelines ist ein aktuelles Thema, das in der physiotherapeutischen Community der Schweiz unterschiedlich eingeschätzt wird. Zu diesem Thema gibt es sogar besondere Allergien.
Am diesjährigen nationalen Physiotherapiekongress in Basel gab es z.B. ein «Battle» zum Thema «Guidelines – Fluch oder Segen?». Unser geschätzter Kollege Sandro Haller postulierte in der Rolle als Guideline-Kritiker u.a., dass Guidelines etwas für Berufsanfänger:innen seien, dass Physiotherapeut:innen immer mehr zu Gymnastikinstruktor:innen mit Bachelorabschluss verkämen und dass er sehr gerne aus ein paar «Turner:innen» wieder Handwerker:innen machen möchte. Nach Meinung der Co-Autor:innen dieses Essays sind wir Physiotherapeut:innen der Implementierung von evidenzbasierten Clinical Guidelines im individuellen Clinical Reasoning Prozess nicht einfach ausgesetzt. Gerade bei der Anwendung von Clinical Practice Guidelines gilt: Brain on! Der niederländische Dozent, Forscher und Care-Ethiker Jeroen van Egmond machte vor einigen Jahren folgenden Vorschlag: «Nennen Sie einen Überblick über die Evidenz lieber eine Evidenzaussage (engl.: Evidence Statement) und keine Leitlinie oder Guideline. Es wird dann deutlicher, dass es sich nur um eine der drei Wissensquellen der evidenzbasierten Physiotherapie handelt und zeigt, dass Interpretation und Integration notwendig sind». Vor diesem Hintergrund ist nach Meinung der Co-Autor:innen dieses Essays folgendes Mindset besonders zutreffend: «Non ducor, duco – ich werde nicht geführt, ich führe».
Physiotherapie ist grundsätzlich ein konservatives Geschäft. Konservativ im Sinne von konservieren. Wir wollen das, was sich bewährt hat, bewahren und weitergeben. Das Erprobte wollen wir nicht abwerten. Wir haben Sorge und wollen Sorge tragen, dass das Bewährte nicht verschwindet. Aber Obacht: Auf Grundlage von datiertem Wissen sind einige Berufskolleg:innen weiterhin bereit, nicht wirksame Therapieformen anzuwenden und verschliessen sich für bestimmte evidenzbasierte Handlungsempfehlungen. Das veranlasst uns Co-Autor:innen darüber nachzudenken, was die Überlegungen dahinter sein könnten. Wir unterziehen in diesem Essay diesem Verhalten eine umsichtige Diät, die jedoch die Abmagerung zu einem schlotternden Knochengestell vermeidet. Wir wollen unsere Einschätzung mit Bedacht formulieren.
In unserer berufsbedingten Ahnungslosigkeit haben wir geglaubt, dass das Neue in der Gesellschaft prinzipiell die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dieser Neomanie ist auch die Physiotherapie ausgesetzt. Sie ist jedoch zu Recht keine Selbstverständlichkeit. In diesem Sinne sollten wir wertkonservativ und trotzdem progressiv sein. Neuerungen stossen auf Gegenwind: Der Mensch – und Physiotherapeut:innen sind schlussendlich auch nur Menschen – liebt Beständigkeit und fürchtet Veränderung. Wir haben Freude an (echtem) Fortschritt, sind gleichzeitig kritisch gegenüber sinnfreier Innovation. Hier hilft geistige Flexibilität: Nichts ist nur gut oder nur schlecht. Zugleich gilt: Wer Neues etabliert, sollte sich vom Alten abgrenzen. Wir halten fest: Massgebend ist die Verfeinerung des Denkens, des Urteilens und letztendlich des individuellen physiotherapeutischen Handelns.
In Anlehnung an Professor Dr. med. Johann Steurer wagen wir an dieser Stelle zu behaupten, dass Physiotherapie die Wissenschaft der Unsicherheit und gleichzeitig die Kunst der Wahrscheinlichkeit ist. Die moderne evidenzbasierte Physiotherapie muss demzufolge Komplexität aushalten. Auch wir Physiotherapeut:innen sind jedoch eher schlecht darin, Ambiguität auszuhalten; Unsicherheit ist ein Zustand, den wir vermeiden möchten. Diese Umstände treiben einige von uns sozusagen in eine kollektive Bettlägerigkeit. Der einzige Ausweg scheint für einige eine gewisse Wissenschaftsskepsis zu sein. Da spielt aus unserer Sicht der «ungesunde Menschenverstand» einen Streich. Clinical Practice Guidelines helfen nämlich, im Interesse der bestmöglichen Behandlung der Patient:innen und im Kontext des partizipativen Entscheidungsfindungsprozesses (engl.: Shared Decision Making), evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Sie basieren auf einer systematischen Überprüfung der Evidenz und einer Bewertung der Vorteile und Nachteile alternativer Behandlungsoptionen. Der Hauptvorteil von Clinical Practice Guidelines besteht darin, die Qualität der Patient:innenversorgung zu verbessern, indem sie bewährte Massnahmen fördern und ineffektive oder potenziell schädliche Massnahmen verhindern. Clinical Practice Guidelines können auch die Qualität der Versorgung verbessern, Patient:innen stärken, die öffentliche Politik beeinflussen, die Entwicklung von Leistungsmessungen und -bewertungen vorantreiben und die Planung hochwertiger Interventionen lenken. Clinical Practice Guidelines bieten unvergleichlich wertvolle, systematisch aufbereitete und von Fachleuten bewertete Evidenz, die weit über die Aussagekraft einzelner Studien hinausgeht. Sie verbinden wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischer Erfahrung und sollten daher als wichtige Orientierung für unseren Praxisalltag herangezogen werden. Die deutsche Physiotherapeutin Sabine Lamprecht formulierte es folgendermassen: «Wer seine Patient:innen qualitätsgesichert und evidenzbasiert versorgen möchte, darf sich diesem geprüften Wissen nicht verwehren».
Lasst uns Physiotherapeut:innen in der Schweiz kollektiv auf die evidenzbasierte, leitlinienorientierte Physiotherapie einlassen. Gelingt uns dies so resultieren aus dieser inneren Überzeugung Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, Reflektionsfähigkeit und Führungsstärke. Damit vermeiden wir die drohende intellektuelle Obdachlosigkeit. Das wäre eine transformative Erfahrung, für die wir nicht einmal einen inhaltlichen Handstand machen müssten. Wir werden in diesem Entwicklungsschritt nicht fremdgeführt, wir führen uns selbst – «non ducor, duco». Und die gelebte klinische Wirklichkeit zeigt uns - nach konsequentem Clinical Reasoning und spätestens beim retrospektiven Wiederbefund - was schlussendlich für unsere:n individuelle:n Patient:in zielführend oder weniger zielführend war.
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